Schluss mit den Schattenspielen

Schluss mit den Schattenspielen

20. Januar 2023

Nach den gewaltsamen Ausschreitungen in der Silvesternacht 2022 führt Deutschland wieder eine Integrationsdebatte. Statt konkreten Lösungsansätzen näherzukommen, wird die öffentliche Diskussion von Pauschalisierungen und Ressentiments beherrscht. Khaldun Al Saadi, Programmleiter der Jungen Islam Konferenz und Konfliktmoderator, hat dazu einige Anmerkungen und drei konkrete Vorschläge.

Manege frei für die “kleinen Paschas”

Für mich sind Integrationsdebatten häufig ein Schattenspiel. Als unscharfe Silhouette erscheint auf der Leinwand das inspizierte Objekt, der Grund für die Debatte – in diesem Fall die jungen Menschen mit Migrationsgeschichte. Die einen wollen eine wilde, unzähmbare Bestie sehen und besitzen vielleicht noch so viel Anstand, das nicht allzu deutlich zu formulieren. Die anderen schrecken vor jeglichen Festlegungen zurück, aus Sorge, sich in rassistischen Ressentiments zu verlieren. So kann eine vielfältige Gesellschaft keine Konflikte lösen. Wir müssen diese Leinwand niederreißen, uns selbst auf die Bühne bewegen und in einem dialogischen Prozess verstehen, dass wir alle eine Rolle einnehmen in der Frage, wie wir das Zusammenleben in diesem Land gestalten.

Wie wir mittlerweile wissen, hat sich die „Gewaltbereitschaft an Silvester in einem ‚ähnlichen Maß wie vor der Pandemie‘ bewegt“. (DLF 2022) Dennoch können und sollten wir uns als Gesamtgesellschaft darüber austauschen, wie eine Spirale aus Frustration, Entfremdung und Desillusionierung in Gewalt von jungen Menschen mündet. Wie diese Abwärtsspirale einer konstruktiven Selbstwirksamkeit weichen kann. Doch die Art und Weise, in der in Deutschland nun über Integration gesprochen wird, schwächt die konstruktive Lösungsfindung für ein durchaus reales Problem. Seit Jahrzehnten und so auch diesmal vermitteln Integrationsdebatten die Vorstellung unüberwindbarer Unterschiede entlang konstruierter ethnischer und kultureller Eigenschaften. Losgelöst von der Betrachtung von Lebensumständen lautet die Parole: „Der Migrant und Gewalt – das ist wie Pech und Schwefel. Und jetzt haben wir den Salat.“ Die überwunden geglaubte Idee von Zivilisierten auf der einen und zu Zivilisierenden auf der anderen Seite hat die Zeit hartnäckig überdauert. Das meint die JIK-Studie Kritik und Visionen einer postmigrantischen Gesellschaft, wenn sie von der im „Integrationsparadigma inhärente[n] Differenzlogik des Rassismus“ spricht (Soliman und Ahmad 2021: 6, hier geht es zur Studie).

die Art und Weise, in der in Deutschland nun über Integration gesprochen wird, schwächt die konstruktive Lösungsfindung für ein durchaus reales Problem.

Das zu realisieren, verharmlost die Gewalt an Silvester nicht, sondern macht Gewalt da sichtbar, wo wir übereinander denken und unser Handeln danach ausrichten.

Viel zu schnell gilt eine bedürfnisorientierte Perspektive gegenüber „den Anderen“ als verweichlicht. Nur klare Regeln und repressive Härte seien geeignete Mittel im Umgang. Aus der Perspektive der Konfliktmoderation müssen wir aber dringend auch auf die Lebensverhältnisse und Bedürfnisse der Menschen schauen, wenn wir Gewalt und ihre Vorstufen verstehen wollen. Soziale und ökonomische Sicherheit sowie eine gute Perspektive für die Zukunft sind universelle Bedürfnisse von Menschen mit und ohne Migrationsgeschichte. Deshalb brauchen wir ein kollektives postmigrantisches Bewusstsein. Deutschland ist von Migration geprägt. Das ist eine unwiderrufliche Tatsache. Davon profitierte und profitiert dieses Land auf vielen Ebenen. Entstehen durch Migration auch Konflikte? Ja, und gerade deshalb ist es wichtig, dass wir Ereignisse wie die Silvesterkrawalle angemessen einordnen. Das mindert nicht die Gewalt gegen unbeteiligte Menschen, Rettungskräfte und die Polizei. Es stärkt uns in dem Vertrauen, dass die Menschen in diesem Land in der Lage sein können, vereint dagegen vorzugehen.

Wir müssen auch auf die Lebensverhältnisse und Bedürfnisse der Menschen schauen, wenn wir Gewalt und ihre Vorstufen verstehen wollen.

Drei Empfehlungen an politische Entscheidungsträgerinnen und -träger

Auf welchen politischen Maßnahmen kann man aufbauen? Die folgenden drei Empfehlungen stehen exemplarisch dafür, dass in den letzten Jahren bereits wichtige Schritte in die richtige Richtung gegangen wurden, an denen angeknüpft werden kann:

1)      Die Potenziale des Bundesprogramms „Demokratie Leben!“ stärker nutzen

Mit „Demokratie Leben!“ hat das Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend gemeinsam mit Landes- und Kommunalverwaltungen und einer engagierten Zivilgesellschaft Strukturen etabliert, um gesellschaftliche Konflikte auszuhandeln. Diese Strukturen müssen über die aktuelle Programmlaufzeit bis 2024 hinaus aufrechterhalten und an geeigneten Stellen ausgebaut werden. Als Grundlage hierzu wird das Demokratiefördergesetz dienen, das Ende letzten Jahres vom Bundeskabinett auf den Weg gebracht wurde. Teil des Programms sind die Kompetenznetzwerke, die mit ihrer fachlichen Expertise der Zivilgesellschaft, der Verwaltung und den durch „Demokratie Leben!“ geförderten Projekten zur Verfügung stehen. Als Teil des Kompetenznetzwerks “Zusammenleben in der Migrationsgesellschaft” stehen wir, gemeinsam mit unseren Partnern, zur Verfügung.

2)      Das “Kooperationsnetzwerk – Sicher Zusammenleben” der postmigrantischen Realität anpassen

Das Kooperationsnetzwerk ist eine Initiative des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge und unterstützt den Aufbau eines bundesweiten Netzes von Ansprechpersonen bei Sicherheitsbehörden und muslimischen Akteuren. Ursprünglich wurde das Kooperationsnetzwerk durch einen Beschluss der Deutschen Islam Konferenz initiiert. Aufgrund der postmigrantischen Realität sollte ein solches Kooperationsnetzwerk mit einem Schwerpunkt auf den Dialog mit jungen Menschen mit Migrationsgeschichte unabhängig von ihrer religiösen Orientierung etabliert werden.

3)      Ökonomische Selbstwirksamkeit stärken

Viele junge Menschen mit Einwanderungsgeschichte streben nach ökonomischem Erfolg und privatem Fortkommen. Sie sehen nicht, dass sie unter den gegebenen Umständen ausschließlich in Lohnarbeit ihre persönlichen Ziele verwirklichen können, und suchen nach alternativen Wegen besonders im Unternehmertum. Mit Bildungs- und Fördermaßnahmen sollte hier ein Ausgleich gefunden werden. Unter anderem die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung für dieses Jahr angekündigte Nationale Strategie zur Ökonomischen Bildung kann hier wichtige Impulse setzen.

Mit der nötigen Distanz erkennen wir, dass wir in den letzten Jahren wichtige Schritte in die richtige Richtung gemacht haben. Ich bin überzeugt davon, dass wir diesen Weg weiter gehen müssen, wenn wir den jungen Menschen in unserem Land eine lebenswerte Zukunft bieten wollen. Dass es zu Konflikten und womöglich zu Gewalt kommt, kann man nicht ausschließen. Der Staat und die Gesellschaft werden aber stark genug sein, um auch damit umzugehen.

#herkunft #zugehörigkeit

  • von Khaldun Al Saadi
  • am 20. Januar 2023

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