Zwei verschiedene Pässe und eine vielfältige Identität

Zwei verschiedene Pässe und eine vielfältige Identität

16. November 2023

Warum haben manche Menschen das Recht auf eine doppelte Staatsbürgerschaft, während es anderen verwehrt bleibt? Warum beherrschen die Debatten über die doppelte Staatsbürgerschaft immer noch die Schlagzeilen? Warum diskutieren wir im Jahr 2023 lebhaft, ob es in Ordnung ist, eine andere Staatsbürgerschaft neben der deutschen zu besitzen? Diese Fragen veranschaulichen bereits die Komplexität der Debatte zur doppelten Staatsbürgerschaft in Deutschland.

Eine Ewige Debatte

Die Debatte um die Einbürgerung hat in letzter Zeit wieder an Fahrt gewonnen und wurde dieses Jahr erneut heftig diskutiert. Die Innenministerin Nancy Faeser (SPD) hat im Sommer einen Gesetzentwurf vorgelegt, um die Einbürgerung zu erleichtern – der Entwurf wurde inzwischen von der Bundesregierung beschlossen und wird im nächsten Schritt im Parlament diskutiert.[1] Unter anderem soll die doppelte Staatsbürgerschaft keine Ausnahme mehr sein. Doch zuvor hatte es viel Gegenwind gegeben, insbesondere aus der Union. In der Debatte hat CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt die geplante Reform als „Verramschung“ bezeichnet.[2] Alexander Thorm von der CDU behauptete in einem Tweet, die Ampel-Regierung behandle die Staatsbürgerschaft als „Billigware wie beim Black Friday“.[3]  Auch die stellvertretende Unionsfraktionsvorsitzende und CSU-Politikerin Andrea Lindholz stand einer generellen Zulassung der doppelten Staatsbürgerschaft skeptisch gegenüber. Sie behauptete, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt dadurch nicht gestärkt, sondern geschwächt werde.[4] Diese Position der Union gegenüber der Ausweitung der doppelten Staatsbürgerschaft war nicht neu. Schon 1998/1999 hatte die Union eine umstrittene Kampagne gegen die Ausweitung der doppelten Staatsbürgerschaft gestartet. Mit der Unterschriftenaktion gegen die Reform des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts „Ja zur Integration, Nein zur doppelten Staatsbürgerschaft“ hat die Union damals die geplante Reform der rot-grünen Bundesregierung abgelehnt.[5] Es ist bedauerlich zu sehen, dass fast 23 Jahre später sich weder die Haltung noch die Argumente der Union zu dem Thema geändert haben.

Identität ist viel komplexer als nur die Frage, welchem Land man angehört.

Entweder/Oder

Das Entweder-oder-Prinzip verhindert bisher bei zahlreichen Menschen in Deutschland eine Einbürgerung. Laut der Bundestagsabgeordneten der SPD-Fraktion Hakan Demir in einem Interview mit dem ZDF könnten sich viele Türk*innen einbürgern lassen, weil sie die Voraussetzungen erfüllen, machen es aber nicht, weil sie ihren türkischen Pass behalten möchten.[6] Warum sollte man die Menschen vor diese schwierige Entscheidung stellen? Vor allem, da die doppelte Staatsbürgerschaft in Deutschland kein fremdes Konzept ist. Es gibt bereits zahlreiche Menschen, die sowohl die deutsche als auch eine weitere Staatsbürgerschaft besitzen, insbesondere aus der Europäischen Union. Ich selbst gehöre zu den Ausnahmen und habe die doppelte Staatsbürgerschaft, da die Entlassung aus der syrischen Staatsbürgerschaft nicht möglich ist.[7]
Laut dem Statistischen Bundesamt durften fast 50% der Fälle der Einbürgerungen zwischen 2000 und 2016 ihre andere Staatsbürgerschaft beibehalten. Es stellt sich die Frage, warum die andere Hälfte anders behandelt werden sollte. [8]

Die Spitze des Eisberges

In unserer Gesellschaft neigen wir dazu, Identität hauptsächlich über die Staatsbürgerschaft zu definieren, doch das ist nur ein kleiner Teil der Geschichte. Aus meinen eigenen Erfahrungen wird mir immer klarer, dass Identität viel komplexer ist als nur die Frage, welchem Land man angehört. Oft drängt uns unsere Umgebung in ein starres Entweder-oder-Denkmuster. Diese Schwarz-Weiß-Sichtweise erschwert es, unsere Identitäten miteinander zu verknüpfen und ihre Vielfalt anzuerkennen. Identität ist jedoch nicht in Stein gemeißelt. Sie ist ein dynamischer Prozess, der von vielen verschiedenen Faktoren beeinflusst wird. Kulturelle Einflüsse, Sprachen, Begegnungen und Erfahrungen gestalten uns zu den einzigartigen Menschen, die wir sind. Diese vielfältigen Einflüsse können sich im Laufe der Zeit verändern und weiterentwickeln.

„Ein Deutscher mit Migrationshintergrund“ oder „ein Syrer mit einem deutschen Pass“?

Viele von uns sind in zwei Welten aufgewachsen, in zwei Kulturen, die oft als gegensätzlich angesehen werden. So auch ich. In Syrien bin ich geboren und verbrachte dort eine Kindheit, die von Tanz, Gesang und frohem Gelächter geprägt war. An den Wochenenden trafen wir uns im Hof meiner Großmutter, wo mein Onkel die Saiten seines Ouds zum Leben erweckte, während meine Tante uns mit ihrer Stimme verzauberte und der Rest von uns sich im Tanz verlor. Nach den üppigen Mahlzeiten, die meine Großmutter liebevoll zubereitet hatte, tauchten wir in improvisierte Theatervorstellungen ein, begleitet von herzhaftem Lachen, das die Nachbarschaft mit Leben erfüllte.
Diese Tage in Syrien bedeuten für mich eine unbeschwerte Kindheit und wertvolle Erinnerungen, die mich mein Leben lang begleiten werden. Meine Erinnerungen reichen von meinen ersten Schritten bis zu meinem ersten Kuss.
Mit zwanzig Jahren bin ich nach Deutschland gekommen und habe es trotz anfänglicher Schwierigkeiten geschafft. Hier in Deutschland bin ich gereift, habe mich gebildet, habe gearbeitet und viele wertvolle Erfahrungen gesammelt. Die Möglichkeit, mich politisch zu engagieren und mich für Menschenrechte einzusetzen, war ein wichtiger Schritt für mich, was unter dem diktatorischen Regime in Syrien undenkbar gewesen wäre. In Deutschland habe ich meine zweite, nicht leibliche Familie gefunden und viele tiefe Freundschaften geschlossen.
Deutschland bedeutet für mich Selbstvertrauen, Sicherheit und Erwachsenwerden. Meine Kindheit in Syrien und mein Erwachsenwerden in Deutschland. Beide Kulturen und ihre Sprachen haben mich geprägt und meine Identität geformt.
Ich wäre nicht der, der ich bin, ohne beide Kulturen. Ich bin kein Deutscher mit Migrationshintergrund und kein Syrer mit deutschem Pass. Ich bin beides.

In Deutschland habe ich meine zweite, nicht leibliche Familie gefunden und viele tiefe Freundschaften geschlossen.

Ein Falafel-Stand auf dem Weihnachtsmarkt.  Fehl am Platz ?

Bereits zwei Jahre nach meiner Ankunft in Deutschland ist mir klargeworden, wie meine vielfältigen Erfahrungen meine Identität beeinflussen.
An einem kalten Dezembertag im Jahr 2017 erlebte ich hier eine Szene, die mich zum Nachdenken brachte. Auf dem Weihnachtsmarkt in Marburg, umgeben von zahlreichen Ständen, roch es nach gebrannten Mandeln, heißen Maronen, Crêpes und Pfannkuchen. Die Menschen hielten in einer Hand Tassen mit Glühwein und in der anderen ein leckeres Brötchen mit Bratwurst. Alle unterhielten sich und wärmten sich unter den heißen Strahlern. In diesem Getümmel von Menschen, Lichtern und Gerüchen erblickte ich einen Falafel-Stand. Ich freute mich diesen Stand zu sehen, integriert in den sonst so „klassischen“ Weihnachtsmarkt. Aber gleichzeitig war ich irritiert. In meiner Erinnerung war Falafel mit etwas anderem verbunden als mit einer der vielleicht deutschesten Traditionen, die es gibt, dem Weihnachtsmarkt. Falafel steht für mich für Damaszener Häuser, in denen häufig in der Mitte eine Bahra zu sehen war (ein Brunnen), umgeben von Jasmin-Blumen. Aber hier auf dem Weihnachtsmarkt floss weder Wasser aus einem Brunnen, noch duftete es nach Jasmin.
Diese Szene des Falafel-Stands auf dem Weihnachtsmarkt berührte mich, verwirrte mich, ließ mich nicht mehr los. Je mehr ich mich auf dem Heimweg vom Weihnachtsmarkt entfernte, desto stärker beschlich mich das seltsame Gefühl, dass der Falafel-Stand, zwischen den anderen und den „eigentlichen“ Weihnachtsmarkt-Ständen, auf mich deplatziert gewirkt hat, deplatziert war. Mehr noch: Stand dieser Falafel-Stand sinnbildlich für mich? Dafür, dass ich in der deutschen Gesellschaft aufgrund von rassistischen, homo- und queerphoben Diskursen deplatziert bin?

Identitäten sollten nicht exklusiv gestaltet werden und multiple Zugehörigkeiten sollten keine Widersprüche erzeugen.

Eine Brücke zwischen den Identitäten

Die Frage der Identität in Deutschland sollte meiner Meinung nach mehr diskutiert und in der Zukunft neu definiert werden. Ich finde es wichtig, dass junge Menschen mit ihren verschiedenen Identitäten sichtbar werden können. Identitäten sollten nicht exklusiv gestaltet werden und multiple Zugehörigkeiten sollten keine Widersprüche erzeugen.
Der Falafel-Stand auf dem Weihnachtsmarkt mag für manche, wie damals auch für mich, anfangs ungewöhnlich erscheinen. Doch mittlerweile, nach all den Jahren in Deutschland, ist er für mich zu einem Symbol der Verbindung zwischen meinen beiden Welten geworden. Ein Symbol, das für mein „Ich“ steht, das beide Kulturen und Identitäten mit voller Freude leben möchte, ohne sich für eine davon entscheiden zu müssen. Gerade in der Tatsache, dass beide Welten in mir trage, liegt meine wahre Stärke – als Mensch, der sich in zwei Kulturen zuhause fühlt und das Beste aus beiden Welten vereint.
Die Möglichkeit der Mehrstaatlichkeit ist ein starkes Signal, dass alle mit ihren individuellen Erfahrungen, Vordergründen und Hintergründen als vollwertiger Teil der deutschen Gesellschaft gesehen werden. Die Hürde einer schwierigen „Entweder-oder“-Entscheidung kann dadurch überwunden und stattdessen ein Zeichen der Akzeptanz und Toleranz gesetzt werden. Der neue Gesetzentwurf  zum Staatsangehörigkeitsrecht ist somit ein erster Schritt, um eine Zukunft zu gestalten, in der Menschen mit Migrationsgeschichte sich nicht mehr deplatziert, sondern vielmehr zugehörig fühlen. Und auf dem Weihnachtsmarkt müssten Menschen sich nicht zwischen Hummus oder Brezeln entscheiden, sondern könnten beides mit Selbstverständlichkeit miteinander kombinieren.

Der Beitrag ist im Rahmen des Fellowships zu den JIK Talks 2023 entstanden.

[1]htps://www.bmi.bund.de/SharedDocs/pressemiteilungen/DE/2023/08/staatsangehoerigkeit-pm.html  [2]htps://www.zdf.de/nachrichten/politk/staatsangehoerigkeit-migraton-pass-streit-ampel-union-100.html  [3]htps://twiter.com/alexander_throm/status/1596140979303731207
[4]htps://www.lindholz.de/bundestagsreden/94-rede-einbuergerung/

[5]htps://de.wikipedia.org/wiki/CDU/CSU-Unterschrifenakton_gegen_die_Reform_des_deutschen_Staatsbürgerschafsrechts
[6] htps://www.zdf.de/nachrichten/zdfeute-live/einbuergerung-deutschland-staatsangehoerigkeit-video-100.html
[7]htps://www.bundesregierung.de/breg-de/suche/ausnahmen-456780 8 [8]htps://www.bundesregierung.de/breg-de/suche/ausnahmen-456780

#empowerment #herkunft #zugehörigkeit

  • von Ahmad Kalaji
  • am 16. November 2023

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