Ein Europa der Vielen?

Ein Europa der Vielen?

26. April 2023

Antimuslimischer Rassismus und negative Bilder über den Islam und Muslim*innen sind in ganz Europa verbreitet und haben eine lange Geschichte. Es gibt viele sich ähnelnde, stigmatisierende Narrative in den verschiedenen europäischen Ländern und es werden immer wieder die gleichen Stereotype reproduziert. Trotzdem ist es wichtig, auch die Unterschiede und lokalen Kontexte genauer zu betrachten. Genau aus diesem Grund haben wir uns im Zuge der Vorbereitung auf die Narrative Change Academy Inputs von Expert*innen aus drei europäischen Ländern angehört – William Barylo aus Frankreich, Samira Brahimi aus Italien und Alaya Forte aus Großbritannien.

Ich möchte hier vor allem auf den Input von Alaya Forte zu Narrativen über Islam und Muslim*innen in Großbritannien eingehen. Alaya Forte ist Dozentin an der Queen Mary University of London und hat ihr Studium in Arabistik und Islamwissenschaften sowie in Politikwissenschaften und Gender Studies absolviert. Ihr akademischer Fokus liegt auf der politischen und gesellschaftlichen Repräsentation und Teilhabe von Muslim*innen in Großbritannien im Kontext von weit verbreitetem antimuslimischem Rassismus.

Zunächst ein paar Fakten: In Großbritannien leben ca. 2,8 Millionen Muslim*innen, das sind ca. 4,4% der Gesamtbevölkerung. Allerdings sind 40% der britischen Muslim*innen unter 24 Jahre alt, was dafür spricht, dass ihr Anteil in der Bevölkerung in den nächsten Jahren ansteigen wird. Die ersten Muslim*innen kamen im 17. Jahrhundert nach Großbritannien und die erste Moschee wurde 1889 gebaut. Während der britischen Kolonialherrschaft kamen viele Menschen aus dem British Empire nach Großbritannien. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und nach den Unabhängigkeitskämpfen zogen insbesondere Menschen aus Indien und Pakistan nach Großbritannien und erhielten dort die Staatsbürgerschaft und eine Arbeitserlaubnis. Insgesamt ist die muslimische Bevölkerung in Großbritannien ethnisch sehr vielfältig und wuchs durch unterschiedliche Migrationsbewegungen – während der Kolonialzeit (vor allem aus Kenia und Uganda), nach der Unabhängigkeit (vor allem aus Pakistan und Indien) sowie in den letzten Jahrzehnten zum Beispiel aus Somalia, Afghanistan, Bosnien, dem Iran und Saudi-Arabien.

Trotz dieser offensichtlichen Vielfältigkeit der muslimischen Communities wird in Großbritannien der Islam und Muslim*innen immer wieder als monolithische Einheit dargestellt – genauso wie in vielen anderen Teilen Europas. Eine Ursache dafür ist auch die mediale Berichterstattung. Alaya Forte sagt hierzu, dass noch vor ein paar Jahren deutlich mehr über antimuslimischen Rassismus und Islamophobie berichtet wurde. Inzwischen findet das Thema jedoch immer weniger Beachtung und es herrscht zunehmend ein Gefühl der Normalisierung: “Islamophobia has passed the dinner table test”.

At the level of everyday lived experiences there are so many instances of aggression, micro-aggression and discrimination that are structural to British society
Alaya Forte

Anders als beispielsweise in Deutschland oder besonders auch in Frankreich gibt es laut Alaya Forte in Großbritannien jedoch keine Gesetze, die Muslim*innen besonders diskriminieren – wie das Verbot, an bestimmten öffentlichen Orten oder in bestimmten Jobs ein Kopftuch zu tragen. Auch sind zum Beispiel Schulen aller Konfessionen zugelassen. Wir alle wissen, dass es in Deutschland zwar katholische und evangelische Schulen gibt, eine islamische Schule aber für weite Teile der Bevölkerung undenkbar wäre. Trotzdem gibt es auch in Großbritannien Regelungen, die dafür genutzt werden, Muslim*innen zu diskriminieren. Ein Beispiel hierfür ist die Deradicalisation Strategy, unter der beispielsweise Lehrer*innen und Ärzt*innen dazu angehalten werden, alles zu melden, was sie als mögliche Radikalisierung einstufen. Es hat sich gezeigt, dass insbesondere Fälle von angeblicher islamistischer Radikalisierung gemeldet wurden. Fälle wie dieser: Eine Schülerin, die bis dato kein Kopftuch getragen hatte, fing eines Tages damit an.

Auch wenn Alaya Forte antimuslimischen Rassismus in Großbritannien im Vergleich zum Rest Europas als subtiler beschreibt, ist doch sehr deutlich zu sehen, dass Muslim*innen trotzdem strukturell diskriminiert werden. Alaya Forte sagt hierzu: “At the level of everyday lived experiences there are so many instances of aggression, micro-aggression and discrimination that are structural to British society and that inform young British Muslims lives.”

Diese Bestandsaufnahme ist zunächst doch recht deprimierend. Auch wenn wir nuanciert Unterschiede zwischen den europäischen Ländern sehen, wird klar, wie ähnlich sich die antimuslimischen Narrative überall sind. Es gibt jedoch auch Grund zum Optimismus, denn in  vielen europäischen Ländern gibt es Gegenbewegungen zu diesen Narrativen, die insbesondere von jungen Menschen vorangetrieben werden. Immer wieder hat Alaya Forte von inspirierenden Projekten und Menschen erzählt, die sich engagieren und für ein gleichberechtigtes Zusammenleben einsetzen: das Ramadan Tent Project, der Islamophobia Awareness Month, und auch Personen wie Nadiya Hussein, Suhaiymah Manzoor-Khan und viele, viele mehr. Es freut mich sehr, dass wir durch die Narrative Change Academy unseren Beitrag zu einem inklusiveren Europa leisten können. Dafür bringen wir junge Menschen aus verschiedenen europäischen Ländern zusammen, um gemeinsam eine Kampagne gegen antimuslimischen Rassismus zu entwickeln. Die ähnlichen Erfahrungen, die Menschen in all diesen Ländern machen, aber auch die regionalen und nationalen Unterschiede sind eine interessante Grundlage für die Kampagne. Ich erhoffe mir sehr, dass vielleicht auch langfristige Kooperationen und Aktionen zwischen der JIK und Organisationen in anderen europäischen Ländern entstehen können. So können wir unsere Vision einer gerechten postmigrantischen Gesellschaft gemeinsam erreichen und die Narrative nach unseren Vorstellungen umgestalten.

#narrative change

  • von Josefine Rindt
  • am 26. April 2023

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