Zu Besuch in Hanau

Zu Besuch in Hanau

15. Februar 2023

Am 19. Februar 2023 jährt sich zum dritten Mal der rassistische Terroranschlag von Hanau. Zahedullah Helmand, Sprecher der JIK-Regionalgruppe Hessen, erinnert sich zu diesem Anlass zurück an seine Eindrücke bei dem Besuch der Eröffnung der Bildungsinitiative Ferhat Unvar im November 2021.

Es jährt sich zum dritten Mal der erschütternde, rassistische Mordanschlag in Hanau. Am 19. Februar 2020 hat der Täter gezielt aus rassistischen, muslimfeindlichen Motiven neun Frauen und Männer mit Migrationshintergrund erschossen. Wir erinnern an Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov.

Gehen wir zurück zum 14. November 2021. Es ist Sonntag, und ich gehe auf einen Geburtstag, glaube ich. Ich bin mir nicht sicher, ob man das so nennen kann. Geburtstage sind für viele ein Grund zur Freude und zum Feiern. Heute weiß ich nicht, wie ich mich fühlen soll. Am 14. November 2021 wäre Ferhat Unvar 25 Jahre alt geworden. Die Bildungsinitiative Ferhat Unvar lädt zu ihrer Eröffnungsveranstaltung ein: am Geburtstag von Ferhat.

Die Bildungsinitiative wurde genau vor einem Jahr, am 14. November 2020, von Ferhats Mutter Serpil Temiz Unvar ins Leben gerufen. Die Initiative möchte eine Anlaufstelle sein für alle Kinder, Jugendlichen, jungen Erwachsenen und deren Eltern, die rassistische Erfahrungen im Alltag oder in der Schule machen. Und heute werden die Räumlichkeiten der „Bildungsini“, wie man sie auch nennt, am Friedensplatz in Hanau eröffnet.

Es ist kein Tag wie jeder andere. Es ist auch kein Geburtstag wie jeder andere. Denn es ist ein Tag des Gedenkens, ein Tag der Erinnerung. Ich trete ein: Die Räume sind schön dekoriert, es hängen viele weiße und goldene Luftballons, Lichterketten und eine Girlande mit schönen Fotos, die an Ferhat erinnern. Es gibt sogar Torte. Hier steckt Liebe drin, viele Menschen haben mitgewirkt, damit die Eröffnungsfeier am Geburtstag von Ferhat so schön wie möglich wird. Zugleich wird mit dem Bewusstsein „gefeiert“, dass es Ferhats zweiter Geburtstag ist, den er selbst nicht erlebt. Ich spürte Gänsehaut, allein als ich die Bildungsinitiative betreten habe. Der Kontrast vom Gedenken an den ermordeten Ferhat und die „Feier“ des Geburtstags mit Luftballons und Torte macht mich nachdenklich.

Es sind viele Menschen aus Hanau und von außerhalb zu Besuch gekommen. Als Regionalgruppe der Jungen Islam Konferenz in Hessen haben wir mit Teilnehmenden aus Halle/Leipzig und Baden-Württemberg die Eröffnungsveranstaltung der Bildungsinitiative besucht. Die Regionalgruppe aus Halle/Leipzig ist auch bewegt durch den rassistischen, antisemitischen Anschlag am 9. Oktober 2019, an dem der Versuch eines Massenmordes an Juden an Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag, glücklicherweise misslang. Trotzdem tötete der Täter zwei Menschen. Wir erinnern auch an Jana Lange und den Gast Kevin Schwarze, der im Imbiss Kiez-Döner erschossen wurde. Beide Täter verbindet ein menschenverachtender Verschwörungsglaube, in dem sowohl Antisemitismus als auch antimuslimischer Rassismus eine zentrale Rolle spielen.

Das sind miteinander verbundene Erfahrungen, dass in Orten, an denen wir leben, bestimmte Menschen zur Zielscheibe werden

Das sind miteinander verbundene Erfahrungen, dass in Orten, an denen wir leben, bestimmte Menschen zur Zielscheibe werden und sich nicht sicher fühlen. Und trotz dieser schrecklichen Taten in Halle und Hanau ist für uns die Folge daraus Solidarität und Verbundenheit, um zu zeigen, dass wir das nicht akzeptieren und dagegenstehen. Um uns gegenseitig stark zu machen.

Die Tatsache, dass ein rassistischer Extremist sich für seinen Anschlag gezielt migrantisch und muslimisch gelesene Menschen ausgesucht hatte, weckt in mir stets Wut, aber genauso auch Frust und Hilflosigkeit. In Zusammenhang mit dem Anschlag vom 19. Februar 2020 in Hanau hat jeder von uns ganz individuelle Erfahrungen, die Emotionen in uns hervorgerufen haben. Am 09. Februar 2020, zehn Tage vor dem Anschlag, war für mich ein ganz besonderer Tag, an dem ich all meine Sorgen und Zukunftsängste vergessen habe – meine Hochzeit. In einer Zeit, in der Rassismus und Diskriminierung alltäglich sind, konnte ich das für einen Tag beiseitelassen und im Moment leben. Ich blickte voller Hoffnung auf die Zukunft, die ich mit meiner Frau gemeinsam beschreiten will. Doch mit der Nachricht in der Nacht vom rassistischen Mordanschlag in Hanau, nicht weit weg von meinem Wohnort, war ich in Sorge und Angst versetzt. Ich stellte mir die Frage, ob meine Frau, meine Familie und Freund*innen oder meine zukünftigen Kinder und Enkelkinder das nicht treffen könnte. Ob wir alle sicher seien. Meine Hoffnung wurde auf die Probe gestellt.

Es macht mir viel Mut, die Familien, Freund*innen und Menschen zu sehen, die sich solidarisch mit den Angehörigen zeigen.

Ich nehme hier bei der Bildungsinitiative, etwa anderthalb Jahre nach dem Anschlag in Hanau, ganz viel Trauer und Sorge wahr, die aber nicht für sich allein steht. Die Bildungsinitiative ist das Ergebnis von Tränen, Hoffnung und der Kraft, etwas zu verändern. Es macht mir viel Mut, die Familien, Freund*innen und Menschen zu sehen, die sich solidarisch mit den Angehörigen zeigen. Das Miteinander macht uns stark. Es ist ein Schritt zur Selbstermächtigung, indem man durch Bildungsarbeit und die Schaffung und Erhaltung von Erinnerungskultur dem Ziel einer antirassistischen Gesellschaft näherkommt.

Dieser Besuch bedeutet mir viel, da die Menschen der Bildungsinitiative es vormachen, trotz des Frusts und der Sorgen nicht die Hoffnung zu verlieren. Sie nehmen uns mit in ihre Arbeit: Sie berichten von ihren Workshopangeboten für antirassistische Bildung und Empowerment und laden uns mit offenen Armen dazu ein, teilzunehmen oder sogar mitzuwirken.

Wir erinnern, wir zeigen Solidarität und wir wollen dieses gemeinsame Erinnern gestalten. Wie das aussehen kann, habe ich bei meinem Besuch am 14. November 2021 erlebt. Ich als Besucher, betroffen von Rassismus und Diskriminierung, konnte dort enorm viel Kraft schöpfen. Der Besuch hat mir die Hoffnung gegeben, dass die Zukunft sich am besten mit dem eigenen Handeln mitgestalten lässt. Und das am besten mit anderen, die genauso empfinden.

#erinnerungskultur #rassismus #solidarität

  • von Zahedullah Helmand
  • am 15. Februar 2023

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